FLÜCHTLINGSSCHICKSALE
Verwaltungsmaßnahmen müssen vollzogen werden
Ein algerischer Flüchtling mehrfach kurz vor der Abschiebung
Dies ist die Geschichte eines Flüchtlings aus Algerien. Wenn Sie bei
der Lektüre dieses Artikels Schwierigkeiten haben, die einzelnen Schritte
des Verfahrens zu begreifen, so sei Ihnen versichert, daß vieles
auch nicht verständlich ist. Dennoch wird es Ihnen immerhin noch leichter
fallen als dem betroffenen Flüchtling, der die deutsche Sprache nur
ungenügend beherrscht...
Im Jahre 1993 verläßt H. seine Heimat, nachdem er als Offizier
aus der algerischen Armee desertiert ist. Ihm gelingt die Flucht nach Italien,
von dort reist er nach Deutschland ein. Hier beantragt er politisches Asyl:
Er befürchtet bei einer erzwungenen Rückkehr in sein Land, der
Unterstützung des islamistischen FIS verdächtigt zu werden und
deshalb schwere Strafen und Folter durch die Militärpolizei bzw. den
Geheimdienst in Algerien erwarten zu müssen. Systematische Menschenrechtsverletzungen
und die Folterpraxis der Militärpolizei sind durch unabhängige
Berichterstatter hinlänglich bekannt. Das Bundesamt und die angerufenen
Gerichte sehen dies anders: Auch sämtliche Folgeanträge und Klagen
werden abgelehnt, seit März letzten Jahres gilt das Asylverfahren
als eingestellt. Die Argumente sind bekannt: Alles sei bloße Ver-mutung;
die Desertion sei ohne jede „asylerhebliche Relevanz“, und die darüber
hinaus im Lande stattfindenden Terroranschläge lediglich eine „abstrakte
Gefahr“.
Zwischenzeitlich lebt H. „geduldet“ in Sachsen. Letztmalig bis zum
Februar 1998 wird die Duldung verlängert. Zwei Abschiebungsversuche
scheitern im März bzw. April: Er wehrt sich buchstäblich mit
Händen und Füßen gegen eine Rück-kehr nach Algerien
– „äußerst renitentes Verhalten“ wird ihm später bescheinigt.
Der verbissene Kampf der Zentralen Ausländerbehörde Chemnitz
um den Vollzug der geplanten „Maßnahme“ beginnt. H. kehrt aus Angst
vor einem erneuten Abschiebungsversuch nicht in sein Wohnheim zurück.
Wenig später wird er festgenommen, seit August letzten Jahres sitzt
er in Abschiebehaft in der Leipziger Justizvollzugsanstalt. Dort wird er
seitdem von der Abschiebehaftgruppe des Flüchtlingsrats betreut.
Weitere rechtliche Schritte bleiben erfolglos. Sein „Kampfesmut“ sinkt
zunehmend, auch bei ihm zehrt die Haft so an Nerven und Kraft, daß
schon bald die Verzweiflung siegt. Am 21. November 1998 erfolgt ein weiterer
Abschiebungsversuch. Unmittelbar vor dem geplanten Besteigen des Flugzeugs
versucht H., sich die Pulsadern an den Handgelenken aufzuschneiden. Dieser
Selbstmordversuch verhindert für jenen Tag die Abschiebung. Kurze
Zeit darauf stellt ein Anwalt für ihn einen Eilantrag auf Aussetzung
der Abschiebung wegen akuter Suizidgefahr im Falle eines erneuten Abschiebungsversuches.
Die Ausländerbehörde bereitet unterdessen ungerührt die
Abschiebung vor und kündigt „verstärkte Besatzung“ für das
nächste Mal an.
Das angerufene Verwaltungsgericht verpflichtet dann aufgrund des eingereichten
Eilantrags die Ausländerbehörde, bis zur endgültigen Gerichtsentscheidung
keine weiteren „Vollstreckungsmaßnahmen“ durchzuführen. Damit
ist H. für den am 12.12. angesetzten Termin vorerst gerettet. Ein
vom Gericht angefordertes psychiatrisches Gutachten bestätigt kurze
Zeit darauf, dass die Selbstmordabsichten ernstzuneh-men seien und stellt
für einen erneuten Abschiebungsversuch fest, daß „mit hoher
Wahrscheinlichkeit“ ein weiterer Suizidversuch erwartet werden muss.
Zwischenzeitlich steht eine erneute Verlängerung der Abschiebehaft
an. Der zuständige Ermittlungsrichter sieht keinen Grund, dem entsprechenden
Antrag der Ausländerbehörde nicht zu entsprechen. Die dringende
Bitte, wegen des extrem labilen psychischen Zustands H.s zumindest nicht
gleich weitere drei Monate Haft anzuordnen, bleibt gänzlich ungehört.
Mehr noch: in blankem Zynismus erklärt der Ermittlungsrichter, wenn
er nicht gleich drei Monate anordnete, dann habe er „den doch in vier Wochen
schon wieder hier sitzen“! Die Reaktion H.s auf diese Haftverlängerung
ist zu erwarten: Nun scheint er mit seiner Kraft vollkommen am Ende, der
letzte Rest Vertrauen in die Menschlichkeit der Behörden ist gebrochen.
Unterdessen geschieht, was zu befürchten war: Durch die Haftverlängerung
ist offensichtlich die Dringlichkeit der Angelegenheit in den Augen von
Behörden und Gerich-ten gesunken: Mehr als sechs Wochen lang passiert
über-haupt nichts. Es gibt keinerlei Nachricht über das laufende
Verfahren; daß auf der anderen Seite keine Haftprüfung stattfindet,
braucht wohl nicht erwähnt zu werden. Das unbedingte Beschleunigungsgebot,
das insbesondere bei Freiheitsentziehungen den beteiligten Behörden
und Gerichten auferlegt ist, wird eindeutig mißachtet.
Am 12. Februar 1999 (seit dem Eilantrag sind mehr als zwei Monate vergangen)
lehnt das zuständige Verwaltungsgericht schließlich den Antrag
ab. Die Ausländerbehörde habe sich umfassend zu den für
eine Abschiebung bei Suizidgefahr vorgesehenen „flankierenden Sicherheitsmaßnahmen“
geäußert und genüge damit ihren Sorgfaltspflichten. Diese
„flan-kierenden Maßnahmen“ zur Verhinderung eines erneuten Suizidversuchs
werden in der Tat mit bisher ungekannter Detailtreue beschrieben: Man kündigt
„komplette Ganzkörperuntersuchungen“ an, damit H. keine „gefährlichen
Gegenstände“ am Körper verstecken kann. Ein hinzugezogener Amtsarzt
solle dabei die „Oral- bzw. Analuntersuchung“ übernehmen. Der Arzt
sorge darüber hinaus ggf. für die Verabreichung von Medikamenten.
Der BGS seinerseits kündigt die „Anwendung unmittelbaren Zwanges“
und die Verwendung „zur Verfügung stehender dienstlicher Hilfsmittel“
an. Im Klartext: H. soll unter Umständen nach der Ganzkörperuntersuchung
vollkommen gefesselt und ggf. so unter die Wirkung von Beruhigungsmitteln
gesetzt werden, dass die Abschiebung ohne störende Zwischenfälle
vollzogen werden kann! Das eigentlich Skandalöse ist die „ärztliche
Begleitung“: Es kündigt sich eine Abschiebung an, die überhaupt
nur dank der Mitwirkung eines Arztes realisiert werden kann. Für mich
festigt sich nunmehr der Eindruck, daß hier die Abschiebung buchstäblich
unter allen Umständen geplant wird.
Diese wird nun offensichtlich mit besonderer Eile vorbereitet und schließlich
für den 6. März angekündigt. Alle noch in letzter Minute
unternommenen „Rettungsversuche“ schlagen fehl: Das Gefühl der vollkommenen
Ohnmacht gewinnt nun die Oberhand. Am 6. März dann wird H. durch einen
bloßen Zufall vor der Abschiebung gerettet: Der mit der Begleitung
der Abschiebung beauftragte Arzt erscheint nicht wie geplant.
Etwas Zeit ist dadurch gewonnen, mehr nicht. Am 16. März läuft
die Abschiebehaftzeit aus. Der Ermittlungsrichter verlängert ungerührt
die Haftzeit um einen weiteren Monat: Der Betroffene sei selbst dafür
verantwortlich, dass die Abschiebung bisher nicht vollzogen werden konnte.
Gleichzeitig wird der 8. April als neuer Termin für die Abschiebung
bekannt-gegeben. Dass der Abschiebungsversuch am 6.3. nicht durch H.s Verschulden
scheiterte, übersieht der Richter großzügig. Auch daß
die Angelegenheit zwischenzeitlich durch das Gericht verschleppt worden
ist, sieht er nicht ein.
H. selbst ist nach der Haftverlängerung endgültig am Ende
seiner Kraft: Noch am gleichen Tag beginnt er einen Hungerstreik. Er sieht
keinen anderen Ausweg. Nach zwei Wochen (und damit eine Woche vor der angekündigten
Abschiebung) ist er körperlich so geschwächt, daß er unmöglich
als reisefähig bezeichnet werden kann. Am 6.4. wird er schließlich
ins Justizvollzugskrankenhaus eingewiesen.
Am heutigen Tag (7.4.) erfolgt dann die unerwartete Wendung: Aufgrund
der am 22. März eingelegten sofortigen Beschwerde gegen die neuerliche
Haftverlängerung hebt das Landgericht nach einer Anhörung den
Haftbeschluss auf! Wegen des hohen Seltenheitswertes ist dieses Ereignis
an sich schon ein Erfolg. H. wird nach fast acht Monaten Abschiebehaft
entlassen und bekommt die Auflage, sich umgehend ins Wohnheim nach Klingenberg
zu begeben. Indessen teilt die Zentrale Ausländerbehörde jedoch
auf Anfrage mit, dass sich an ihren Absichten selbstverständlich nichts
geän-dert habe: Die für den 8.4. geplante Abschiebung könne
zwar wegen der derzeitigen Flugunfähigkeit H’s nicht stattfinden,
„natürlich“ werde sie aber weiterhin vorbereitet. Großzügig
gesteht man ihm nach seinem nunmehr dreiwöchigen Hun-gerstreik einige
Tage Ruhepause hier in Leipzig zu. Er möge jedoch keinesfalls versäumen,
seine Anschrift sofort mitzuteilen - andernfalls würde sein Untertauchen
vermutet und sogleich die „Fahndung eingeleitet“...
Somit ist nun alles offen: Ob genug Zeit bleibt, um evtl. noch eine
Möglichkeit für H. zu finden, der „Rückführung“ in
seine Heimat zu entgehen? Oder ob am Ende doch alle Bemühungen umsonst
waren und der endgültige Vollzug der „Maßnahme Abschiebung“
gelingt? All das ist unklar. Für mich bleibt H.s Geschichte ein erschütterndes
Beispiel dafür, wie ein Flüchtling durch das Zusammenspiel von
Ausländerbehörde, Haftrichter und Verwaltungsgerichten nach und
nach regelrecht kaputt gemacht und jeglicher Widerstand gebrochen werden
kann. Ich kann und will nicht begreifen, dass nach so vielen misslungenen
Abschiebungsversuchen der Ausländerbehörde der Verbleib dieses
algerischen Flüchtlings in Deutschland aus humanitären Gründen
als so unzumutbare und unmögliche Alternative erscheint.
Beate Kube
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Diese Seite wurde aktualisiert am 23.6.2020.