FLÜCHTLINGSSCHICKSALE
Sie hätten melden sollen, dass sich Ihre Adresse nicht geändert
hat...
Wie Pannen bei der Postzustellung ein Asylverfahren beenden können
Frau Ajvazi, eine junge Studentin aus Kosova, flüchtete Anfang Januar
1992 nach Deutschland und beantragte Asyl. Sie berichtete, sie stamme aus
einer patriotisch eingestellten Familie und habe sich schon während
ihrer Schulzeit politisch gegen das jugoslawische Regime engagiert. Der
Vortrag der Antragstellerin, sie habe im April 1990 einen Gasangriff auf
die Universität Prishtina miterlebt, wurde vom Bundesamt in seiner
Ablehnung mit dem Hinweis begegnet, ihm lägen keine Informationen
über einen solchen Angriff vor. Auch die Verhaftung von Schwester
und MitschülerInnen und StudentInnen wurde als nicht asylbegründend
gewertet, da diese Maßnahmen sich nicht gegen sie selbst gerichtet
hätten. Sie hatte das Land aber erst dann verlassen, nachdem man ihr
mitteilte, nach der Kontaktaufnahme mit einem Vertreter der Oppositionspartei
UNIKOMB drohe ihr ebenfalls die Verhaftung, da das Gespräch offenbar
bespitzelt worden sei.
Frau Ajvazi wurde am 22.04.2020 nach Thüringen und dort der Gemeinschaftsunterkunft
Rositz zugewiesen. Seit Oktober 1992 hielt sie sich aber in den Räumen
der Diakonie in Meuselwitz auf, da sie in der Unterkunft die einzige ledige
Frau gewesen war. Diese Nutzung der Gemeinderäume wurde von der Ausländerbehörde
geduldet, obwohl sie nie ausdrücklich gestattet wurde. Das Landratsamt
Altenburg informierte das Bundesamt jedenfalls mit Schreiben vom 04. und
09.08.2020 über diese Wohnsitznahme; auch Frau Ajvazi selbst gab diese
Adresse bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 31.03.2020 als ladungsfähige
Anschrift und Nebenwohnsitz an, nachdem sie bereits unter dieser zur Anhörung
geladen worden war.
Am 05.04.2020 wurde sie dann aufgefordert, sich in die Gemeinschaftsunterkunft
Schmölln zu begeben. Das Landratsamt Schmölln gab eine Woche
später – ohne Wissen der Asylbewerberin – dem Bundesamt diese Anschrift
als die jetzt gültige an. Die Klägerin befolgte diese Zuweisungsentscheidung
(wie auch die zuvor ergangene Zuweisung nach Rositz) nicht, sondern hielt
sich weiterhin in Meuselwitz auf. Ihr wurde auch kein Raum in der Gemeinschaftsunterkunft
bereitgehalten. Die Ausländerbehörde forderte sie auch nicht
auf, ihren Nebenwohnsitz aufzugeben.
Mit Bescheid vom 30.08.2020 wurde der Asylantrag abgelehnt. Der Bescheid
wurde zunächst an die Nebenwohnung in Meuselwitz adressiert, diese
Adresse dann durchgestrichen und der Brief dann am 03.09.2020 an die Unterkunft
in Schmölln zugestellt. Dort fand sich Frau Ajvazi mindestens einmal
pro Woche ein, um ihre Post und Pakete in Empfang zu nehmen. Ihr Nebenwohnsitz
war dort bekannt. Bei dem Versuch, den Ablehnungsbescheid zuzustellen,
wurde sie jedoch vom Wachpersonal fälschlich als „unbekannt verzogen“
gemeldet. Eine Ersatzzustellung durch Niederlegung oder Übergabe an
den Heimleiter wurde nicht versucht.
Am 23.09.2020 wurde Frau Ajvazi von der Ausländerbehörde
Altenburg eine Abschrift des Bescheides ausgehändigt, gegen den sie
noch am selben Tag Klage erhob. Diese Klage wurde vom Verwaltungsgericht
Gera ohne den Hinweis, sie sei verspätet, akzeptiert. Das Verwaltungsgericht
lud sie zur mündlichen Anhörung am 16.10.2020. Erst danach, am
17.11.2020 (also drei Jahre nach Klageerhebung), wies es die Klage wegen
Verfristung ab. Weder die offensichtlich falsche Auskunft, der Aufenthaltsort
von Frau Ajvazi sei unbekannt, noch die veraltete Adresse des VG Gera in
der Rechtsbehelfsbelehrung wurden als ausreichend für eine Wiedereinsetzung
in den vorherigen Stand angesehen. Das Gericht argumentierte: da die Ausländerbehörde
dem Bundesamt zuletzt die Anschrift der Gemeinschaftsunterkunft als neue
Zustellungsadresse angegeben hatte, „war eine erneute Anzeige bezüglich
ihrer Anschrift in Meuselwitz insbesondere gegenüber dem Bundesamt
erforderlich, weil sie entgegen der neuen Zuweisungsentscheidung nicht
in der für sie bestimmten Gemeinschaftsunterkunft ihre Wohnung nahm“.
Mit anderen Worten: obwohl die Klägerin gar nicht wusste, dass die
Ausländerbehörde dem Bundesamt eine neue Postadresse angegeben
hatte, hätte sie ihre gleichgebliebene Nebenwohnung erneut als Anschrift
angeben müssen!
Erst am 08.08.2020 (3 Jahre später) wurde ein Bescheid der Ausländerbehörde
zur Aufhebung der Nebenwohnung erlassen und – erstaunlicherweise – an die
Adresse in Meuselwitz geschickt. Erst damit wurde der Nebenwohnsitz effektiv
aufgelöst.
Der Rechtsanwalt versuchte noch einen Antrag auf Zulassung der Berufung
wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs; dieser wurde jedoch vom Oberverwaltungsgericht
Weimar am 22.04.2020 abgewiesen.
Inzwischen wurde der Umverteilung von Frau Ajvazi nach Leipzig zugestimmt,
wo sich auch ihr Bruder aufhält. Sie versucht, ihr Studium fortzusetzen,
und hält sich in einem Studentenwohnheim auf (auch das wird toleriert).
Sie hat nach rechtskräftigem Abschluß des ersten Asylverfahrens
am 05.05.2020 einen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens
gestellt, der vor kurzem abgewiesen wurde.
Dieter Karg
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Diese Seite wurde aktualisiert am 01.10.2020.