Antirassistisches Grenzcamp:
Protest gegen das bundesdeutsche Grenzregime unerwünscht
Zum zweiten Anti-Grenzcamp der Kampagne "kein mensch ist illegal".
In Zittau ist die Welt noch in Ordnung. Die ortsansässigen Neonazis
sorgen für Ordnung und Sicherheit im Inneren, der Bundesgrenzschutz
schützt vor dem äußeren Feind (den Flüchtlingen),
und die Bevölkerung fühlt sich wohl – aber nur solange, wie sie
in ihrem Alltag nicht gestört wird. Zum Beispiel durch ein antirassistisches
Grenzcamp.1
Ein solches Camp fand dieses Jahr zum zweiten Mal an der bundesdeutschen
Ostgrenze statt. Die Kampagne "kein mensch ist illegal", die seit einigen
Jahren versucht, politische Diskussionen über Inhalte, Formen und
Perspektiven antirassistischer Arbeit voranzutreiben, Aktionen zu initiieren
und Organisationen zu vernetzen, die sich mit dem Motto der Kampagne identifizieren,
veranstaltete schon letztes Jahr ein Camp bei Rothenburg an der Neiße,
um gegen die Abschottungspolitik, die Arbeit des BGS und die teilweise
denunziationswütige Bevölkerung zu demonstrieren. Das Camp war
ein Erfolg und die Initiator/inn/en beschlossen, sich dieses Jahr an einer
Neuauflage zu versuchen, die besser, größer und schöner
werden sollte. Doch erst kam alles anders...
Wenige Tage vor Camp-Beginn wurde der öffentliche Druck auf den
Verpächter des Camp-Geländes in Lückendorf (bei Zittau)
so groß – die Neonazis drohten, ihn umbringen und sein Haus abbrennen
zu wollen, was sie mit ihrer ständigen Präsenz vor dem Haus unterstrichen,
der BGS und Behörden redeten ihm "ins Gewissen", die Presse war pikiert
und die anderen Anwohner/innen brachen alle Kontakte ab –, daß er
den Vertrag kündigte. Zu Hilfe kam ihn eine plötzlich hervorgekramte
Bestimmung, die besagte, daß Zelten in Naturschutzgebieten nur mit
Ausnahmegenehmigung möglich sei. Das Verwaltungsgericht wollte diese
Genehmigung auch nach einer Klage nicht erteilen.
Mit dem Wissen, daß von nichts nichts kommt, brachen mehrere
hundert Camp-Teilnehmer/innen trotzdem am 7. August in Richtung Zittau
auf und besetzten aus Protest gegen das Camp-Verbot einen Platz. Nach zähen
Verhandlungen mit den Verantwortlichen der Zittauer Stadtverwaltung, die
sich erst alle verleugnen ließen, konnte nach zwei Tagen ein Ausweichgelände
erstritten werden. Dieses erfüllte leider nicht die Voraussetzung
dafür, daß das Camp schöner werden sollte...
Größer wurde es in den folgenden Tagen dann aber auf alle
Fälle. Ca. 1.000 Menschen reisten vom 7. bis zum 15. August an und
ab, im Durchschnitt waren 500 vor Ort. Parallel zu dem Grenzcamp im Dreiländereck
fand auch an der deutsch-dänischen Grenze bei Flensburg ein antirassistisches
Grenzcamp statt. Außerdem folgten mehrere Gruppen in verschiedenen
Ländern dem internationalen Aufruf, gegen die durch Grenzen repräsentierte
und vollzogenen Abschottungspolitik zu protestieren, und führten Aktionen
an der US-amerikanisch-mexikanischen, ungarisch-österreichischen und
polnisch-weißrussischen Grenze durch. Die polnischen Gruppen beteiligten
sich übrigens nach ihren Aktionen in Polen neben vielen anderen Menschen
aus ganz West- und Osteuropa am Grenzcamp bei Zittau. Trotz der Reisebeschränkungen
und der drohenden Kriminalisierung bei Teilnahme an politischen Aktionen,
waren auch Flüchtlinge zahlreich vertreten.
Es gab mehrere Aktionen an der Grenze, über die Grenze, an Grenzübergängen,
vor BGS-Kasernen, in Vorgärten, Kaufhallen, auf dem Oybin, Demonstrationen
in der Zittauer Innenstadt, vor dem Flüchtlingsheim und bekannten
Nazi-Treffpunkten, Veranstaltungen (z.B. mit einem polnischen Überlebenden
des Holocaust) und Partys.
Eine detaillierte Beschreibung der Camp-Aktivitäten würde
den Rahmen dieser Zeitschrift sprengen. Verwiesen sei auf die gut gestalteten
und ausführlichen Internet-Seiten zum Camp: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/camp.
Außerdem soll im Herbst 1999 eine Broschüre zum Camp erscheinen,
die von uns herausgegeben wird. Bestellungen sind an den Infoladen Leipzig,
Koburger Str. 3, 04277 Leipzig, E-mail: il@island.free.de
zu richten.
Zum Ergebnis des Camps: Die Lokalpresse zieht letztendlich doch eine
positive Bilanz. "Keine gehäuften Anzeigen beim Camp" (20.8.99), "Befürchtete
Konfrontation in Zittau ist ausgeblieben" (16.8.99) und "Kein Müll
mehr am Straßenrand. Sauber beräumt haben die Grenzcamper am
Sonntag ihren Lagerplatz." (17.8.99), und dabei haben sich BGS, Behörden,
Presse und Aktivbürger/innen (die das Camp schon mal mit Luftgewehren
beschossen) alle Mühe gegeben, daß es anders kommen würde...
Der Bürgermeister von Zittau hat aber so seine eigene Wahrnehmung:
Er verbot kurzerhand ein Treffen des MUK (Multikulturelles Zentrum in Zittau)
unter dem Motto "Peace On Borderline", weil die Nerven der Zittauer/innen
durch das Grenzcamp zu angespannt seien.
Die meisten Campteilnehmer/innen sind aber in der freudigen und grimmigen
Gewißheit abgereist, daß sie im Jahr 2000 die tödliche
Zittauer Ruhe, wo auch immer Zittau dann liegen mag, wieder stören
werden.
Grenzcamp-AG Leipzig
(siehe auch: "Flucht und Asyl", Nr. 10, S.
10)
Fußnote:
1 Wenige Tage vor dem Camp
wurde z.B. eine schwul-lesbische Party in Zittau, die im Rathaus während
des Stadtfestes stattfand, von Neonazis angegriffen. Die Polizei zog sich
zurück, so daß es zu etlichen Verletzten kam. Der Bürgermeister
von Zittau – der eigentlich einen Angriff auf sein Amtsgebäude verurteilen
müßte – schob die Schuld den Partygästen in die Schuhe,
indem er sich die homophoben Argumente der Neonazis zu eigen machte. Am
darauffolgenden Tag überfielen 150 Neonazis ein alternatives Jugendzentrum
in Zittau. Bundesweit sorgten diese Vorfälle für Schlagzeilen,
nur in Zittau wollte sich niemand so recht dafür interessieren und
alles sollte unter den Teppich gekehrt werden.
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Diese Seite wurde aktualisiert am 01.10.2020.