Flüchtlinge haben keine Wahl
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vom Wahlparty am 04.10.02
Artikel
vom Leipziger Volkszeitung
Ergebnisse der Abstimmung zum "Tag des Flüchtlings" Deutsche
wollen lieber im Asylbewerberheim wohnen, Flüchtlinge wollen frei in
Deutschland reisen. Ein paradoxes Ergebnis? Ja, aber nur, weil wir vom Flüchtlingsrat
Leipzig die Antwortmöglichkeiten so vorgegeben hatten. 12
Tage nach der Bundestagswahl ließen wir am 4. Oktober, dem diesjährigen
"Tag des Flüchtlings", erneut wählen. Diesmal aber keine
Abgeordneten, sondern Lebensschicksale. Auf dem Augustusplatz im Leipziger
Zentrum wurde die Wahl gleich mit einer "Wahlparty" verbunden:
kurdische, afghanische, persische und afrikanische Musikgruppen
verbreiteten bei prächtigem Wetter Feststimmung. Viele Vereine waren mit
Informationsständen erschienen, und ein wenig "Markttreiben"
erzeugte der "Brückenschlag" mit seinem Angebot an von Ausländern
und Deutschen selbst angebautem Gemüse. Es
gab allerdings keinen Wahlsieg zu feiern, denn: "Flüchtlinge haben
keine Wahl" - so lautete das diesjährige Motto. Aufsteller
veranschaulichten die Einschränkungen, denen sie unterworfen sind. Die
Deutschen hatten bei der Abstimmung die "Wahl der Qual": sie
mussten in die Haut eines Asylbewerbers schlüpfen und konnten nur wählen,
ob sie als Verfolgte im Herkunftsland eines Asylbewerbers oder in einem
deutschen Asylbewerberheim wohnen wollten. Die Asylbewerber, deren Leben
in Deutschland fast in allen Bereichen fremdbestimmt ist, konnten dagegen
ihre Träume von einem besseren Leben äußern und an einer zweiten
Wahlurne abstimmen, welche Verbesserungen ihrer Lage ihnen am wichtigsten
sind. Natürlich
sind die Ergebnisse in keiner Weise repräsentativ, da sich (bezogen auf
die Gesamtzahl der beiden Bevölkerungsgruppen in Leipzig) nur wenige
beteiligten, wohl vor allem diejenigen, die engagiert waren. Entsprechend
vorsichtig sollte man die Resultate interpretieren. 57
Deutsche beteiligten sich an der Abstimmung, eine Stimme war ungültig.
Sie fühlten sich sichtlich unbehaglich angesichts der unfairen
Alternative, vor die sich im wirklichen Leben die Flüchtlinge gestellt
sehen. Eine große Mehrheit von 66% zog dennoch das unbequeme Leben im
Asylbewerberheim in Deutschland einem bedrohten Leben im Heimatland des Flüchtlings
(14%) vor. Für keine der beiden Varianten wollten sich knapp 20%
entscheiden: sie gaben entweder leere Stimmzettel ab oder schrieben
entsprechende Kommentare auf den Wahlzettel. Einige äußerten ganz klar
den Wunsch nach einem "Leben 3". Wichtiger als das Ergebnis war
uns hier allerdings das Nachdenken der Wähler über das zugrunde liegende
Problem. Die
Wahlbeteiligung unter den Flüchtlingen (wobei wir nicht zwischen
anerkannten und nicht anerkannten unterschieden) war mit 115 Stimmen,
davon 113 gültige, wesentlich höher: vor allem die persischsprachigen
Stimmzettel waren stark gefragt. (Aber auch 9 deutschsprachige Zettel
wurden ausgefüllt!) Die Männer waren dabei in der Überzahl. Mindestens
2/3 der Beteiligten wohnten noch im Heim. Unter
12 vorgegebenen Wünschen (und einer Zeile für "sonstige")
konnten die Flüchtlinge maximal 5 auswählen. Und 5 Wünsche waren es
auch, die mit Abstand ganz oben auf der Dringlichkeitsliste standen:
"Reisen ohne Erlaubnis innerhalb Deutschlands" mit 66% und
"Keine Einschränkung bei der Arbeitsaufnahme" mit 65%. Eine
"schnellere Entscheidung über den Asylantrag" wünschten sich
63%, ein "Leben in einer eigenen Wohnung" 62%, eine "freie
Wahl des Wohnortes" 56%. Ein Zeichen dafür, wie sehr sich die Flüchtlinge
durch die Einengung ihrer Lebensbedingungen und die erzwungene Untätigkeit
belastet fühlen. Die lange Unsicherheit bis zur Asylentscheidung im
Aufenthaltsstatus "zweiter Klasse" wird offensichtlich als
ebenso schlimm empfunden. An sechster Stelle stand der "geförderte
Deutschkurs" auf den Zetteln (46%): das spricht für den Wunsch, sich
hier zurecht zu finden. Immerhin noch über ein Viertel der Befragten
wollte mehr "politische Mitsprache" - wobei aber anzunehmen ist,
dass viele darunter ein politisches Engagement für das Heimatland
verstehen und nicht so sehr in der deutschen Politik mitreden wollen.
Viele derjenigen, die ihre Stimme abgaben, entsprachen also nicht der gängigen
Vorstellung, dass die meisten Flüchtlinge gar keine politischen seien. An
letzter Stelle der Wünsche (mit je 12%): "Einkauf im Geschäft
eigener Wahl" zusammen mit "freie Arztwahl" - erstaunlich
angesichts der häufigen Klagen über erfolglose Arztbesuche und der großen
Proteste gegen Essenspakete in der Vergangenheit, aber andererseits ein
Zeichen, dass die materiellen Einschränkungen für viele Asylbewerber
nicht das Schlimmste sind. Wahlergebnisse
im Einzelnen: 1.
Deutsche:
2. Flüchtlinge:
Flüchtlinge
– gesonderte Auswertung
Tag des Flüchtlings 2002 - Beteiligte Vereine / Organisationen Flüchtlingsrat
Leipzig e.V. AIDS-Hilfe
e.V. amnesty
international - Gruppe Leipzig Brückenschlag
e.V. Eine
Welt e.V. Gesellschaft
für Völkerverständigung Leipziger
Missionswerk - Ausländerbeauftragter Pax
Christi Libysche
Liga für Menschenrechte Iranischer
Verein für Politik und Kultur Unabhängiger
Iranischer Verein für Politik Verein
der Vietnamesen Leipzig |